Identiät in Bonn

Der kleine Wal

Wir waren kurz davor, mit der Kreiszeit zu beginnen.
Die Plätze neben den Erziehern, Erzieherinnen und oftmals auch neben den PraktikantInnen sind von den Kindern heiß begehrt. Nicht selten fragen sie schon längere Zeit vorher, ob sie während der Kreiszeit neben dem Erzieher oder der Erzieherin sitzen dürfen.
Die vierjährige Lena hatte sich den Platz neben der Jahrespraktikantin gesichert.
Lena ist ein ruhiges, sehr freundliches und ungewöhnlich sozialkompetentes Kind. Sie ist hilfsbereit, rücksichtsvoll und in der Lage, die Bedürfnisse anderer zu erkennen und sich einzufühlen. Dennoch – oder vielleicht gerade deshalb – braucht sie häufig die Nähe zu erwachsenen Bezugspersonen und sie sucht regelmäßig Körperkontakt.

Noch bevor die Erzieherin mit der Kreiszeit begann, bemerkte sie, dass Eric, der neue englischsprachige Junge, etwas verloren auf seinem Stuhl saß. Es war sein 1. Tag ohne seine Mama im Kindergarten und es war klar, dass er, zumal er die Sprache nicht verstand, eine Bezugsperson brauchte.
„Lena!“, sprach die Erzieherin das Mädchen an. „Tausch bitte deinen Platz mit Eric.“ Ich beobachtete Lena. Ihre Augen weiteten sich ein wenig vor Schreck und sie schüttelte langsam, aber deutlich den Kopf. Sie war nicht bereit, ihren erkämpften Platz neben der Praktikantin aufzugeben. Die Erzieherin war von Lena ein Nein nicht gewohnt. Wenn jemand in der Lage ist, eigene Bedürfnisse zugunsten eines anderen Kindes zurückzustellen, dann Lena. Die Erzieherin setzte zu einem etwas strengeren Ton an und erklärte, dass Eric den 1. Tag ohne seine Mama im Kindergarten sei und kein Deutsch verstehe und er deshalb eine erwachsene Person neben sich bräuchte und Lena doch bitte ihren Platz frei machen solle. Natürlich hatte ein Kind wie Lena dem nichts entgegenzusetzen. Trotz, Sturheit oder gar ein Wutausbruch liegen ihr fern. Wortlos stand sie auf und wechselte den Platz. Ihr Gesicht wurde ein wenig bleich und ihre kleinen Mundwinkel zogen sich kaum merklich nach unten. Die Erzieherin war längst mit etwas anderem beschäftigt, um zu organisieren, dass die Kreiszeit endlich beginnen konnte. Ich behielt Lena im Auge, rief ihren Namen und streckte ihr die Hand entgegen. „Du darfst dich zu mir setzen, wenn du möchtest.“ Die Erleichterung war ihr förmlich anzusehen als sie sofort aufstand und schnell zu mir hinüber lief. Ich zog das Kind neben mir auf meinen Schoß, Lena setzte sich neben mich und hielt meine Hand fest.

Ein Kind wie Lena macht Erwachsene glücklich.
Ein Kind wie Lena nervt nicht, schreit nicht, macht kein Theater, ist einsichtig und lieb.
Ein Kind wie Lena kann leicht ein Opfer von Mobbing oder Missbrauch werden.
Daher ist es eine überaus kostbare und verantwortungsvolle Aufgabe für uns Erwachsene, Lenas Qualitäten von Hilfsbereitschaft, Freundlichkeit und Empathie zu stärken und ihr GLEICHZEITIG beizubringen, dass sie Nein sagen darf; dass ein schlechtes Gefühl in ihrem Bauch und Herzen ihr erlaubt, mit jemandem darüber zu sprechen; dass es einen Unterschied gibt zwischen Menschen, die Hilfe brauchen und Menschen, die einen ausnutzen; dass man das manchmal nicht genau wissen kann, ob jemand Hilfe braucht oder einen ausnutzt, und dass man sich in diesem Fall unbedingt einen Erwachsenen suchen darf, mit dem man darüber sprechen kann. Gerade weil ein Kind wie Lena – wenn überhaupt – nur positiv auffällt, ist es überaus wichtig, sie so zu stärken, dass ihre Stärken ihr nicht zum Verhängnis werden.

Und warum in aller Welt, lautet denn jetzt die Überschrift dieses Blogeintrags „Der kleine Wal“??? Des Rätsels Lösung findest du hier : )

Lena hielt meine Hand übrigens höchstens eine Minute fest. Dann ging sie sofort auf in den Liedern und Spielen der Kreiszeit. Ein kurzes „Ich sehe dich“ und „Ich weiß um dich“ reicht oft aus, um wieder mit neuem Mut in das nächste Stückchen Leben zu starten.