Als ich im Jahr 1994 begann, mich im Rahmen meines Anerkennungsjahres für Sozialpädagogik mit der Thematik „Sexueller Missbrauch an Kindern“ zu befassen, hatte ich weder eine Ahnung, was mich erwartete, noch dass mich dieser Bereich wahrscheinlich den Rest meines Lebens begleiten würde.
Die Problematik des sexuellen Missbrauchs war zu diesem Zeitpunkt vor noch nicht allzu langer Zeit „aus der Versenkung“ – sprich Tabuisierung – geholt worden. Neben Fachliteratur, Statistik, Referenten, Vorträgen und Fachgremien, lernte ich Menschen kennen, die missbraucht worden waren und andere Menschen, die versuchten, Betroffenen zu helfen.
Besonders engagierte ich mich in der Arbeitsgruppe „Christliche Gemeinden gegen sexuellen Missbrauch von Kindern“. Es war damals eine unerwartete und erschreckende Entdeckung für mich, dass Kirchen und christliche Gemeinden durch so manche ihrer Strukturen und einige sog. “christliche“ Lehren dazu beitragen, dass sexueller, geistlicher und emotionaler Missbrauch an Kindern wie auch an Erwachsenen begünstigt, geschehen, tabuisiert und verschwiegen werden kann.
Ich erkannte, dass vor allem Eltern und ehrenamtlich Mitarbeitende in Kirchen, die es „gut meinen“ und sich von Herzen gerne für Kinder und Jugendliche engagieren, unter Umständen maßgeblich dazu beitragen können, Kinder und Jugendliche weniger zu starken, freien und mündigen Erwachsenen heranreifen zu lassen, sondern eher zu Angepassten und Gehorsamen, die gerne alle „christlichen Regeln“ befolgen möchten, dadurch aber möglicherweise schneller zu Opfern werden. Dies geschieht immer wieder nach wie vor in der besten Absicht, Kinder zu gläubigen Christen mit hohen moralischen Wertvorstellungen zu erziehen. Ich unterstütze diese Ziele, und mein Mann und ich haben unsere eigenen Kinder so erzogen. Doch scheinen nicht alle Wege, die uns als Christen richtig erscheinen, dorthin zu führen.
Obiges Gedicht erhielten wir als Arbeitsgruppe „Christliche Gemeinden gegen sexuellen Missbrauch“ im Jahr 1996 von der Leiterin einer Wohngruppe für sexuell missbrauchte Kinder. Der Junge, der dieses Gedicht schrieb, hatte sich an seinem Hochbett erhängt. Er war 12 Jahre alt.
Die Leiterin hatte sich mit der Bitte, dass einer von uns kommen und eine Abschiedszeremonie für jenen Jungen halten möge, an uns gewandt. Die Kinder dieser Gruppe sollten die Möglichkeit erhalten, sich auf eine hoffnungsvolle Weise von ihrem Gefährten zu verabschieden. Dass wir als Christen eine Hoffnung haben, die es weiterzugeben lohnt, das schien sie zu wissen.
Wir als Arbeitsgruppe weinten damals gemeinsam um jenen Jungen, um sein kurzes trauriges Leben voller Gewalt und Missbrauch, um die vielen Kinder, die das gleiche Leid wie er erfuhren und um ihr psychisches – und manchmal auch körperliches – Überleben kämpften.
Dieses Ereignis wurde für mich zu einem Schlüsselerlebnis, das maßgeblich dazu beitrug, mein Herz und mein Engagement für dieses und damit zusammenhängende Themen anzufachen.