Sicherheit durch Vorhersehbarkeit in unsicheren Zeiten

Innerhalb meiner Ausbildung zur Traumafachberaterin im letzten Jahr habe ich viele wichtige Impulse bekommen, die nicht nur im Zusammenhang mit Trauma anwendbar sind, sondern Kindern wie Erwachsenen zu mehr emotionaler Stabilität verhelfen.

Ein Aspekt, der mich immer wieder sehr bewegt, ist der Aspekt der Vorhersehbarkeit.

Als im Kindergarten unser Pooltest zum ersten Mal positiv war, waren wir noch nicht so gut darauf vorbereitet. Wir als Mitarbeitende und auch die Eltern hatten dieses Szenario noch nicht selber durchgemacht, so dass entsprechend viele Eltern mit ihren Kindern zur Kita kamen, weil sie nicht wussten, ob ihr Kind betreut werden kann oder nicht. Die meisten Kinder durften die Kita nicht betreten und mussten, um am nächsten Tag betreut werden zu können, einen PCR-Test machen.

Ich bin für die Testungen zuständig. Wenn die Kinder mich sehen, fragen sie sofort: „Ist heute wieder Pooltest???“ Normalerweise gehe ich in jede Gruppe und führe die Testungen durch. Die Abläufe sind immer gleich, und die Kinder kennen das Procedere.
Nun aber war der Pooltest vom Vortrag positiv und ich stand an der Eingangstür und gab den Elternteilen der Kinder, die draußen warteten, die Teströhrchen mit den PCR-Tests. Die Eltern nahmen die Tests in Empfang und testeten ihre Kinder. Unsere Kita hat einen Hof, und viele standen auf dem Hof und warteten. Nichts war wie an den anderen Tagen, an denen ich bisher die Tests durchgeführt hatte.
Ein paar Kinder durften betreut werden und befanden sich innerhalb der Kita. Während ich nun an der Eingangstür stand, kam plötzlich einer der älteren Jungs die Treppe aus der oberen Gruppe hinunter. Er schluchzte unkontrolliert und sein Gesicht war tränenüberströmt. Ich hatte diesen Jungen noch nie weinen sehen und war dementsprechend erschrocken. Sofort wandte ich mich ihm zu und fragte ihn, was denn passiert sei. Nach einer Weile brachte er weinend hervor: „Ich war bei dem Test nicht dabei.“

Sofort wurde mir klar, dass der Junge überhaupt keine Ahnung hatte, was gerade passierte. Er hatte noch nie gesehen, dass der Hof voller Leute war, die draußen anstanden, um von mir durch die Eingangstür den Test gereicht zu bekommen, wo ich doch sonst immer in die Gruppe kam und der Test immer gleich ablief. Ihm war klar, dass er irgendetwas Wichtiges verpasst hatte und er nicht wie sonst getestet worden war. Er hatte das nicht kommen sehen, hatte keine Informationen darüber erhalten und reagierte zutiefst verunsichert.

Wahrscheinlich ist es für die meisten Menschen offensichtlich, dass herausfordernde, schwierige und negative Dinge, die wir nicht haben kommen sehen, Unsicherheit, Bedrohung oder Angst auslösen können. Obwohl das so einfach ist zu verstehen, vergessen wir oft das Gegenteil: Dass es nämlich häufig möglich ist, dem Unvorhersehbaren durch ein paar Informationen mögliche Unsicherheiten und Ängste zu nehmen – vor allem unseren Kindern! Hätte ich vorher darüber nachgedacht, was es für die Kinder bedeuten könnte, ein völlig anderes Testprocedere zu beobachten als es sonst der Fall ist, wäre es leicht gewesen, die Kinder innerhalb der Kita darüber zu informieren, dass heute viele Kinder draußen getestet werden müssen und ich erst danach in die Gruppe kommen werde, um die Kinder dort zu testen. Man müsste das positive Pooltestergebnis gar nicht erwähnen. Die Information: „Heute ist es anders als sonst.“, vermittelt mit einer Ausstrahlung von Ruhe und Freundlichkeit, hätte ausgereicht, um die Tränen zu vermeiden.

Jeder weiß, dass wir in einer Zeit leben, in der auch wir Erwachsene oft nicht klar kommen mit den bedrohlichen Entwicklungen. Während ich dies schreibe, liegt die Corona-Inzidenz bei mehr als 1700 und der Krieg in der Ukraine ist mit all seinen unvorhersehbaren Auswirkungen in vollem Gange. Wir haben schwierige 2 Pandemie-Jahre hinter uns, können aber weiterhin nicht die Perspektive entwickeln (vorher-sehen), dass „alles“ besser wird. Hinzu kommt für viele ein herausfordernder Arbeits- und Familienalltag und persönliche unterschiedliche Probleme – vielleicht finanzieller, gesundheitlicher oder familiärer Art. Auch wenn Vorhersehbarkeit etwas dazu beiträgt, dass wir uns sicherer fühlen können, ist immer noch vieles unvorhersehbar.
Zum Glück ist es möglich, die Unvorhersehbarkeit vorherzusehen 😉

In all dem möchte ich uns gerne den Vers aus der Bibel, 1. Mose 16,13, ans Herz legen. Dort steht: „Du bist der Gott, der mich sieht.“ Dies lädt uns ein, uns sicher zu fühlen. Gott sieht. Für Gott ist nichts unvorhersehbar. Gott sieht über Raum und Zeit und Umstände hinaus auf das, was sicher ist:
Seine unveränderliche Liebe zu uns Menschen.