Ich gehe Samstags oder Sonntags regelmäßig früh Morgens ins Schwimmbad.
An einem Morgen hörte ich das Gespräch einer Mutter mit der Bademeisterin. Sie war mit ihrem ca. 6-jährigen Sohn ins Schwimmbad gekommen. Die Bademeisterin erklärte der Mutter, dass im Nichtschwimmerbecken leider die Pumpen ausgefallen seien und das Becken deshalb nicht zur Verfügung stehe. Mutter und Sohn standen enttäuscht am Rande des Nichtschwimmerbeckens und überlegten, wieder nach Hause zu fahren. Wenige Minuten später entdeckte ich die beiden jedoch am Rand des 3 Meter tiefen Schwimmerbeckens. Es war offensichtlich, dass der Junge alles andere wollte als das Wasser des in seinen Augen wahrscheinlich endlos tiefen Beckens auch nur zu berühren. Die Mutter ließ sich ins Wasser gleiten, während das Kind ängstlich noch mindestens einen halben Meter vom Beckenrand entfernt stehen blieb.

Ich schwamm weiter meine Runden und beobachtete dabei, wie sich die Situation entwickelte. Die Mutter versuchte, ihren Sohn dazu zu bringen, sich an den Beckenrand zu trauen. In Millimeterschritten kam er näher, wich aber immer wieder zurück. Die Mutter überredete, ermutigte, erklärte. Langsam, langsam schaffte es der Junge, das am Rand überschwappende Wasser mit den Zehenspitzen zu berühren. Ich konnte es nicht lassen, das Kind beim Vorbeischwimmen mit einem zuversichtlichen „Das schaffst du!“ anzufeuern. Mutter und Kind lächelten zaghaft – alles andere als sicher, ob sich das bewahrheiten würde.

Ich schwamm weiter und beobachtete voller Spannung, was passierte.
Der Junge schaffte es nach geraumer Zeit, sich an den Beckenrand zu setzen und vorsichtig zuzulassen, dass seine Beine ins Wasser tauchten. Ich schwamm wieder vorbei, und der Blick der Mutter traf den Meinen. „Schau mal“, sagte ich zu dem Kind und umfasste mit meiner Bewegung das gesamte Schwimmerbecken. „So viele schwimmen hier. Und niemand geht unter.“ Dabei sei zu erwähnen, dass im Wasser sich auch durchaus Kinder in seinem Alter befanden, die entweder von einem Elternteil gehalten oder von einem Schwimmlehrer begleitet wurden. „Sieh mal deine Mama an“, sagte ich zu ihm. „Glaubst du, sie würde dich untergehen lassen?“ Er sah seine Mutter an und schüttelte langsam den Kopf. „NIEMALS würde sie das!“, erklärte ich mit Nachdruck – und schwamm weiter.

Nach etwa 40 Minuten hatte die Mutter ihren Sohn so weit, dass er sich im Wasser befand. Dabei umklammerte er fest den Nacken seiner Mutter während er sich zwischen ihren Armen befand. Ihre beiden Hände hielten sich am Rand fest. Sehr fest. Nicht, weil sie selber das brauchte. Sondern der Junge bestand darauf, dass die Verbindung zum „Festland“ bestehen bleiben musste. Aber immerhin. Er war im tiefen Wasser.

So blieben sie eine ganze Weile. Der Junge zwischen ihren schützenden Armen, sich an ihr festhaltend, die Mutter mit ihren Händen fest am sicheren Beckenrand verhaftet.

Später trafen wir uns in den Duschen wieder. Ich lobte den Jungen, wie mutig er heute gewesen war, und dass er schon ganz viel geschafft hat. Seine Mama stimmte mir zu und äußerte Verständnis dafür, dass es ja auch nicht ganz einfach sei, sich ins Tiefe zu wagen.

Diese Situation beschäftigte mich noch eine ganze Weile.
Der kleine Junge hat zweifellos das große Glück, eine liebevolle Mutter zu haben, die mit viel Zeit, Geduld, Verständnis und Ermutigung um das Vertrauen ihres Kindes warb. Es war wundervoll für mich zu sehen, dass sie mit all diesen Ressourcen ausgestattet war und sie an ihr Kind weitergeben konnte.
Der Junge hatte in dieser Situation alles, was er brauchte, um seine Angst überwinden:
Er war nicht allein.
Er hatte seine wichtigste und engste Bezugsperson um sich.
Seine Bezugsperson half ihm und ermutigte ihn.
Ihm wurde Zeit für sein eigenes Tempo gegeben.
Er durfte selber entscheiden, wann er was tun wollte.
Er war umgeben von Menschen, die ihm ihre Erfahrungen anboten: Wasser trägt. Man geht nicht unter. Menschen halten einen fest, wenn man noch nicht schwimmen kann.

Und dennoch sagte er nicht: „Super, danke.“ Und sprang ins Wasser.
All diese guten Erfahrungen, die er in diesen Minuten machte, würden ihm in Zukunft nichts nützen, wenn er es nicht schaffte, sie für sich selber als „gut“ oder „richtig“ oder „nützlich“ zu bewerten und auf sich anzuwenden.
Er brauchte einen Boden unter den Füßen.
Nicht den Schwimmbadboden, auch wenn er das glaubte.
Sondern den Boden des Vertrauens.

Am nächsten Wochenende sah ich ihn wieder – im Nichtschwimmerbecken.
Aber letztes Wochenende – und ich werde immer noch ganz aufgeregt, wenn ich daran denke – schwamm er plötzlich, mit dem Oberkörper auf einer Schwimmnudel, wie selbstverständlich durch das tiefe Becken. Seine Mutter behielt ihn im Auge, doch sie schwamm mindestens 2 Meter von ihm entfernt!

Was ist in diesen 2 Wochen geschehen???
Wer weiß, vielleicht war er jeden Tag im Schwimmbad.
Oder seine Mutter hat ständig mit ihm darüber gesprochen und ihn ermuntert.
Fest steht: Er hat es geschafft! Er hat einen wunderbaren Prozess der Verwandlung durchlaufen! Er hat seine Angst durch eine positive Bewertung seiner guten Erfahrungen in Vertrauen verwandelt!

Dies ist eine ungeheuer große, faszinierende und kostbare Leistung, die die Seele eines Menschen erbringen kann.
Dieser kleine Junge hatte in seiner Situation sehr gute Voraussetzungen, diese Leistung schaffen zu können. Doch das ist absolut nicht selbstverständlich.

Viele von unseren Kindern und viele Erwachsene leben mit tiefen traumatischen Verletzungen durch Missbrauch, Gewalt, Mobbing, Verlust, Verlassensein, Verachtung, Liebesmangel und vielem mehr. All das macht es einem Menschen äußerst schwer, an seinem „Boden“ zu bauen.

Ich habe enorm großen Respekt vor jedem, der es schafft, trotz Angst und Verletzung gute Erfahrungen in Vertrauen zu verwandeln. Wir können einander in vielen kleinen Situationen beim Sammeln von guten Erfahrungen helfen – kleine Bausteine für ein Stückchen Boden, auf dem man vertrauensvoll stehen kann.

Erlaubt mir, auch diesen Blogpost mit einem Vers aus der Bibel zu schließen, den ich sehr liebe. Gott freut sich so sehr, wenn wir unseren „Boden“ mit ihm zusammen bauen:

„Gott rettete mich aus dem Sumpf der Verzweiflung, aus Matsch und Schlamm. Er stellte mich auf festen Boden und gab meinen Füßen festen Halt.“ (Psalm 40,3)