Kein Schrei ins Leere
Während ich eines Tages unser Badezimmer putzte, hörte ich draußen auf der Straße ein Kind schreien. Das Fenster stand offen und ich schaute hinaus. Ich sah einen Mann, offensichtlich der Vater und einige Meter hinter ihm einen kleinen Jungen. Der Junge war höchstens zwei Jahre alt. Der Junge schrie wahrscheinlich schon eine ganze Weile. Er zeigte immer wieder hinter sich, drehte sich immer wieder um und zögerte, hinter dem Vater herzugehen. Es war deutlich, dass der Junge nicht in die Richtung gehen wollte, in die sein Vater ging. Er wollte woanders hin, dorthin, von wo sie gekommen waren.
Dem kleinen Jungen war unbewusst absolut klar, dass er ohne seine Bezugsperson keine Chance hatte dorthin zu gehen, wo er unbedingt hinwollte. Die Körpersprache seines gesamten kleinen Körpers deutete in die Richtung, in die der Vater nicht wollte. Doch seine Füße gingen – zwar langsam und zögernd – aber unweigerlich hinter seinem Vater her. Dieser innere Kampf schien ihn zu zerreißen. Er wollte nicht mit seinem Vater gehen, er wollte woanders hin. Doch die Bindung zu seinem Vater, das innere Wissen, allein unmöglich klar kommen zu können, zog ihn hinter seinem Vater her. Das Kind schrie voller Verzweiflung, Zorn und Hilflosigkeit. Es war völlig außer sich und wahrscheinlich schon relativ erschöpft.
Ich
beobachtete die Situation und bat den Vater innerlich: „Lass ihn nicht allein.“
Und das tat der Vater nicht. Er war ein sehr netter Vater. Ich nehme an, er
hatte schon eine ganze Strecke mit dem Jungen hinter sich, hatte schon
versucht, mit ihm zu sprechen, ihn zu überreden, ihn zu beruhigen. Doch ohne
Erfolg. Dennoch drehte sich der Vater erneut zu seinem Kind, legte einen Arm um
seinen kleinen Körper und sprach ruhig mit ihm. Der Junge schrie unvermindert
weiter, zeigte unaufhörlich in die entgegengesetzte Richtung.
Zwischendurch putzte ich das Bad weiter. Denn der Vater nahm sich Zeit. Der
Junge schrie. Der Vater blieb bei ihm, ging aber auch nicht weiter in die
Richtung, in die der Junge nicht wollte. Nach einer ganzen Weile wurde es
ruhiger vor meinem Fenster. Ich schaute nach draußen. Der Vater hatte sich
zusammen mit seinem Sohn auf eine Mauer gesetzt. Der Junge konnte ungehindert
in die Richtung schauen, in die er eigentlich gehen wollte, ohne sich weiter
entfernen zu müssen. Dort saßen sie nun, sprachen miteinander und gingen
erstmal nicht weiter.
Wenn ein Baby zur Welt kommt, ist sein Nervensystem noch nicht vollständig ausgebildet. Dies bedeutet unter anderem, dass das Baby nicht die Fähigkeit besitzt, seine eigenen Emotionen zu regulieren. Wenn ein Baby schreit, ist es darauf angewiesen, dass eine enge Bezugsperson, im idealen Fall die Mutter oder der Vater kommt und es beruhigt. Die Fähigkeit, sich selbst zu regulieren, d.h. die eigenen Gefühle unter Kontrolle zu bekommen, entwickelt sich in den ersten Lebensjahren. Ein zweijähriges Kind, wie ich es von meinem Badezimmerfenster aus beobachten konnte, ist noch immer davon abhängig, dass es in seinen starken Emotionen nicht allein gelassen wird. Der Schreianfall eines Zweijährigen kann uns Erwachsene einige Nerven kosten und die Gründe für das Schreien mögen uns kaum der Rede wert erscheinen. Doch über Sinn und Unsinn seiner starken Emotionen kann ein zweijähriges Kind nicht reflektieren.
Wir Menschen sind auf Bindung und Beziehung angelegt. Unsere Gesellschaft sieht das aber anders. Wir sollten möglichst schnell alleine klar kommen und niemanden mehr brauchen. Unsere Seele aber nimmt durch diese Einstellung schweren Schaden. Wir werden zunehmend einsamer, haben es zunehmend schwer, enge und dauerhafte Beziehungen einzugehen.
Mein Mann und ich wohnen in unmittelbarer Nähe von zwei Kindergärten und einer Grundschule. Es kommt regelmäßig vor, dass ein laut schreiendes Kleinkind hinter einer entnervten Mutter herläuft. Es bricht mir jedesmal das Herz um des Kindes UND um der Mutter willen. Denn beide sind allein in ihrem Stress. Und das tut beiden nicht gut.
Kinder gegen Gewalt und Missbrauch stark zu machen bedeutet auch, ihnen durch unser Dasein auch in schwierigen Situation mitzuteilen, dass sie nicht allein klar kommen müssen; dass jemand da ist, der mit ihnen durch diese Situation geht; dass Trotz und Wut zwar anstrengend und nervig sind, aber nicht Trennung von ihren Bezugspersonen bedeuten. Denn aus dieser sicheren Bindung heraus können Kinder um Hilfe bitten, gewinnen Kinder deutlich mehr Möglichkeiten zu handeln.
Die beiden sind irgendwann weiter gegangen. Der kleine Junge wollte leider immer noch nicht in die Richtung gehen, in die der Vater wollte und er weinte und schrie wieder. Also kein happy End? Vielleicht nicht, was diese Situation betrifft. Dennoch: Das Gehirn des Jungen durfte abspeichern: Wenn ich nicht zurecht komme, bleibe ich nicht allein damit.