Man nimmt was man kriegen kann…
Eine unserer Mitarbeiterinnen fehlte im Kindergarten. Um ihre Abwesenheit ein wenig auszugleichen, arbeitete ich an einem Vormittag in der Gruppe, in der sie sonst arbeitete. Eins der Kinder ist sehr auf sie bezogen. Es ist sehr introvertiert, noch relativ neu in der Gruppe und spricht kein Deutsch. Die Mitarbeiterin spricht seine Sprache. Wenn das Kind kommt, sucht es sofort nach ihr und kommt erst in den Gruppenraum, wenn sie sich ihm zuwendet und das Kind mit hinein nimmt. Nun war sie aber nicht da.
Als das Kind kam, klammerte es sich an seinem Vater fest. Der Vater zeigte keinerlei Regung. Er setzte sich im Flur auf die Garderobenbank, verschränkte die Arme und wartete. Er sprach nicht mit dem Kind. Er ermutigte es nicht, hineinzugehen. Er half ihm nicht, seine Scheu zu überwinden. Er saß einfach nur da und sagte gar nichts während sein Kind sich an ihm festhielt.
Ich sprach das Kind freundlich an und versuchte es zu motivieren, mit hinein zu kommen. Verständlicherweise hatte ich keinen Erfolg, denn das Kind kennt mich kaum, hat mich vielleicht einige Male gesehen, aber sonst keine Beziehung zu mir. Ich bat einen anderen Mitarbeiter, der das Kind etwas besser kennt, dem Kind zu helfen, was er auch tat. Ich spielte währenddessen ein Spiel mit drei anderen Kindern und verlor die Situation aus den Augen. Nach ein paar Minuten spürte ich, dass jemand neben mir stand. Ich wandte mich um. Das Kind stand neben mir. Sehr dicht neben mir. Es war offensichtlich, dass es Nähe suchte und brauchte. Ich setzte das Kind auf meinen Schoß, nahm es bewusst so, dass es sich gehalten fühlte und bezog es in das Spiel mit ein.
Diese Situation beschäftigte mich noch eine ganze Weile.
Das Bedürfnis nach Nähe und Orientierung ist für die Entwicklung eines Kindes eine gewichtige Sache. Die Sättigung dieses Bedürfnisses erfolgt in den ersten Lebensjahren am effektivsten über die Eltern. Die Eltern signalisieren dem Kind: „Ich bin für dich da.“ „Ich reagiere auf deine Bedürfnisse.“ „Ich nehme deine Bedürfnisse ernst und lehne sie nicht ab.“ Wenn Eltern dieses Bedürfnis nicht sättigen wollen oder können bleibt dem Kind nichts anderes übrig als sich anderweitig zu orientieren und Nähe zu suchen. Dass es dies unter solchen Bedingungen nur aus einem sehr instabilen inneren Fundament heraus tun kann, liegt auf der Hand.
Konkret bedeutet das:
Das Kind sucht nach Nähe und Orientierung, wo immer es die Hoffnung hat, diese zu bekommen – auch bei ihm nicht so bekannten oder fremden Menschen. Dieser starke Mangel in der Psyche eines Kindes ebnet den Boden für Mobbing in der Schule und kommt Menschen, die missbrauchen und Gewalt anwenden, Sekten und anderen radikalen Gruppen auf ihrer Suche nach Opfern entgegen.
Denn um das eigene seelische Überleben zu sichern, nimmt man, was man kriegen kann…