Seit ich vor einem Jahr meinen Mini-Job im Kindergarten begonnen habe, erlebe ich immer wieder gleichermaßen Faszination und Erschütterung über die Macht der Erwachsenen und die Verletzlichkeit der Seele eines kleinen Kindes. An Dutzenden von fast unscheinbaren Situationen und Alltäglichkeiten zeigt sich, wie angewiesen ein kleines Kind darauf ist, dass wir Erwachsenen es gut mit ihm meinen. Dieses kleine Beispiel mag das verdeutlichen:

Am Ende der Spielzeit auf dem Hof wurden alle Kinder zum Mittagessen herein gerufen. Eine körperlich sehr kleine, aber enorm aufgeweckte Vierjährige (sie gehört zu den klügsten und fittesten Kindern im Kindergarten) zog ihre Schuhe aus und fragte mich überflüssigerweise: „Gibt es jetzt Mittagessen?“ „Nein“, erwiderte ich in gespieltem Ernst. „Wir essen das Mittagessen heute erst Abends.“ Sie strahlte mich an und krähte – begeistert, dass ich einen Witz machte und in völliger Sicherheit, dass Abends kein Mittagessen serviert wird – „Neiiin!!! Gaaar nicht!!!“ Ich behielt meine Ernsthaftigkeit bei und erklärte nachdrücklich „Doch, wirklich, heute gibt es erst Abends das Mittagessen.“ Vor wenigen Sekunden noch völlig überzeugt von meinem Spaß, weiteten sich ihre Augen und ihr Lächeln wich einem ungläubigen Staunen während sie fragte: „Wirklich???“
Binnen Sekunden war sie bereit, mir zu glauben. Binnen Sekunden war sie bereit, ihre eigene Überzeugung aufzugeben aufgrund ihrer Erfahrung, dass ein Erwachsener mehr weiß als sie; dass ein Erwachsener Gewohntes plötzlich verändern kann; dass ein Erwachsener Dinge bestimmen darf.
Selbstverständlich erklärte ich ihr sofort, dass ich einen Spaß gemacht hatte, ließ sie an der offenen Tür der Küche Halt machen, so dass sie sah, dass gekocht wurde und zeigte ihr die gedeckten Tische im Gruppenraum.

Einmal mehr erfasste mich fast etwas wie Schrecken. Ein Missbrauchstäter oder eine -täterin, den/die das Kind kennt, den/die es häufig sogar mag und ihm/ihr vertraut, schafft es leicht, einem Kind mitzuteilen, dass das, was er/sie tut, „normal“, „nicht schlimm“ ist, es alle so machen, es dazu gehört, das „Liebe“ bedeutet, dem Kind gezeigt wird, dass es bevorzugt wird, es etwas Besonderes ist. Nur ein Mittagessen, das angeblich abends serviert wird, kann schon ein kleines Stück Welt eines kleinen Kindes auf den Kopf stellen. Wieviel mehr der Missbrauch, wovon es schmerzhaft spürt, dass da irgendetwas ganz und gar nicht stimmt – und dennoch versucht es zu glauben und zu vertrauen, dass der Täter oder die Täterin es besser wissen muss.

Immer, wenn ich solche scheinbar banalen Situationen erlebe, erfüllt mich die Aufgabe, diese kleinen Menschen mitprägen zu dürfen, mit großer Ehrfurcht. Ich kann mit wenig Aufwand viel bewirken. Schlechtes wie Gutes. Ein Kind verunsichern oder Sicherheit schenken; Vertrauen schwächen oder Vertrauen stärken; das Selbstbild negativ oder positiv prägen. Oft merken wir noch nicht einmal, was von all dem wir tun, wenn wir mit den uns anvertrauten Kindern zusammen sind. Ich habe großen Respekt davor, welchen Einfluss ich habe – wir alle haben, die wir mit Kindern umgehen – ob mit unseren eigenen, im beruflichen oder ehrenamtlichen Umfeld. Ich wünsche mir, dass wir mit diesem geschärften Bewusstsein unseren Kindern begegnen.