Wer Hilfe braucht, bekommt sie noch lange nicht…

Jedes Jahr im November oder Dezember gehe ich mit meinen Mädchen aus dem Jugendzentrum zum Schlittschuhlaufen.
Ivana* ist 13 Jahre alt. Sie kommt schon lange in meine Mädchengruppe und jedes Jahr mit zum Schlittschuhlaufen. Sie freut sich immer sehr darauf und hat großen Spaß daran, auf der Eisfläche ihre Kreise zu ziehen.
Doch dieses Mal war irgendetwas anders. Nachdem sie sich die Schlittschuhe ausgeliehen und angezogen hatte, wollte sie – wie immer – sofort losbrausen. Doch es ging nicht. Ihre Schlittschuhe rutschten nach außen ab und es war ihr nicht möglich, ihre Füße gerade zu halten und sich abzustoßen. Sie probierte es immer und immer wieder, doch ohne Erfolg. Ich schenkte der Situation zuerst kaum Beachtung, denn Ivana ist ohne weiteres in der Lage, sich andere Schlittschuhe zu holen und dem Mitarbeiter zu sagen, dass diese nicht passen bzw. nicht in Ordnung sind. Und genau das tat sie auch.

Eine Weile später fuhr ich an Ivana vorbei und sah sie mit Tränen in den Augen am Rand hocken. Sie, die das Schlittschuhfahren liebt, saß weinend am Rand – da stimmte etwas nicht, das war mir sofort klar. Es stellte sich heraus, dass Ivana eine Mitarbeiterin gebeten hatte, ihre Schlittschuhe umtauschen zu dürfen, doch diese hatte es abgelehnt, die Schuhe zu tauschen. Auch nachdem Ivana ihr das Problem erklärt hatte, war die Mitarbeiterin der Überzeugung, Ivana solle „nur ein bisschen üben“, dann würde „das schon gehen“. Es ging aber nicht – doch Ivanas Möglichkeiten, die Situation zu verändern, waren erschöpft und ihre Traurigkeit groß.

Ich nahm die Schlittschuhe und ging zu einem anderen Mitarbeiter. Der sah die Schuhe nur an und wusste sofort, dass man damit nicht laufen konnte. Er schleifte sie nach, doch nachdem er sie geprüft hatte, stellte er sie zur Seite und erklärte, das wäre eine aufwändigere Sache, die Schuhe wieder fit zu machen. Er holte andere. Ivana zog sie an und weg war sie. Mit leuchtenden Augen zog sie endlich ihre Kreise auf dem Eis. Zufrieden sah ich ihr zu.

„Der eigenen Wahrnehmung trauen“ und „Hilfe holen“ sind sehr wichtige Themen, wenn es darum geht, Kinder vor Gewalt und Missbrauch zu schützen.
Sich selbst zu vertrauen, dass etwas nicht in Ordnung ist, obwohl ein Erwachsener die Situation übergeht, sie nicht ernst nimmt und nicht hilft, ist mehr als schwierig, auch für ein älteres Kind wie Ivana – und bei ihr ging es „nur“ um nicht funktionierende Schlittschuhe. Ein Kind, das sexuell missbraucht wird und versucht, sich Hilfe zu holen (was selten genug vorkommt), muss im Durchschnitt sieben Mal eine oder mehrere Personen in seinem sozialen Umfeld ansprechen, bevor es gehört und ernst genommen wird. Während es jemanden sucht, der das Kind ernst nimmt, muss es seiner Wahrnehmung weiterhin vertrauen, dass mit ihm etwas geschieht, was sich falsch anfühlt, was aufhören muss. Und es muss weiterhin glauben, dass seine Wahrnehmung wertvoll genug ist, um beachtet zu werden.

Dies sind alles enorme Leistungen, die die Seele eines Kindes in einer solch schwierigen Situationen aufbringen muss. Solche Ressourcen in unseren Kindern aufzubauen, ist die Aufgabe von uns Erwachsenen – und auch wir haben sie selten genug mit auf den Weg bekommen. Doch aussichtslos ist die Lage keinesfalls – ganz im Gegenteil. Der Alltag ist voll von Situationen, die wir lernen dürfen zu erkennen und dann zu nutzen, um diese Ressourcen aufzubauen. So auch in „meiner“ Schlittschuh-Situation.

Als Ivana außer Atem vor mir stand, lobte ich sie, dass sie versucht hatte, sich bei der Mitarbeiterin Hilfe zu holen und erklärte ihr, dass man manchmal öfters um Hilfe bitten muss bis einem geholfen wird und manchmal auch verschiedene Menschen. Und ich sagte ihr, wie gut es ist, dass sie ganz genau wusste, dass sie Schlittschuhlaufen kann, und es nicht sein konnte, dass es plötzlich nicht mehr funktionierte. Ich ermutigte sie, ihrem Gefühl zu vertrauen und dran zu bleiben, wenn sie Hilfe braucht. Ivana nahm begierig alles auf, was ich ihr sagte und ließ es sich nicht nehmen, mehrmals laut auszurufen: „Ich KANN Schlittschuh laufen und ich VERTRAUE mir und bei Claudi krieg ich IMMER Hilfe!“
Was will man mehr  : )

*Name geändert